„Es ist noch nie vorgekommen, dass der Honig nach nur knapp 24 Stunden nach seiner Gewinnung kristallisiert. Deshalb haben wir ihn zur Analyse ins Labor geschickt …“
Das sagt Claudio, Imker aus meinem Heimattal Primiero in den Trentiner Dolomiten. Die Bienenzucht war schon immer seine große Leidenschaft. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Alessia, Inhaberin des kleinen Landwirtschaftsbetriebs ApisLabor, produziert er Wildblütenhonig, der hier in den Bergen normalerweise flüssig und von rötlich-brauner Farbe ist.
Aber dieses Mal ist etwas anders. Was aus der Honigschleuder, einer speziellen Zentrifuge, mit der der Honig aus den Bienenwaben gewonnen wird, kommt, ist nicht der übliche Honig. Blütenhonig kristallisiert nach mehreren Monaten aus – bei diesem Honig reicht eine Nacht. Er ist blassgelb, fast schon weiß, dickflüssig, leicht säuerlich und von ausgeprägter Süße.
Claudio wundert sich. Und er ist nicht der Einzige: In dieser Gegend gibt es viele Imker, die dieselbe Erfahrung machen. Was ist passiert?
Wie die Pflanze, so der Honig
Die Eigenschaften eines Honigs hängen in erster Linie von der Vielfalt der Blüten ab, aus denen die Bienen den Nektar gewinnen. Eine andere Umgebung bedeutet immer auch eine andere Vegetation und somit einen anderen Honig.
Aus diesem Grund praktizieren manche Imker übers Jahr eine Art Wanderwirtschaft: Abhängig von der jeweiligen Blüte setzen sie die Bienenstöcke um und erhalten so unterschiedliche Honigsorten. Zum Beispiel Akazien- und Kastanienhonig im Flachland und in den Voralpen oder Rhododendronhonig im Hochgebirge. Oder den Wildblütenhonig, der hier oben der Honig der Alpenwiesen ist, die nicht gedüngt werden und daher von außergewöhnlicher Biodiversität sind.
Aber wie ist es nun möglich, dass der Honig von Claudio und Alessia Aussehen und Eigenschaften verändert hat, ohne dass die Bienenstöcke auch nur um einen Meter versetzt worden wären? Wenn sich also der Standort nicht geändert hat, muss sich das Angebot an Pflanzen verändert haben.
Und das ist genau das, was die Laboranalyse ergeben hat. Es ist gar kein Wildblütenhonig, sondern Himbeerhonig, und zwar zu beinahe 100 %.
Himbeere? Den Anbau von Kleinfrüchten gibt es zugegebenermaßen in der Trentiner Landwirtschaft, auch in Primiero. Aber die Bienenstöcke von ApisLabor sind weit entfernt, aufgestellt auf den Wiesen und in den Wäldern oberhalb von Tonadico. Es stimmt zwar, dass Bienen auch sehr große Entfernungen zurücklegen, aber um einen solchen Anteil von Sortenreinheit zu erreichen, müssten die Himbeerbüsche in der Nähe sein. Und zwar ganz viele.
Sturmtief Vaia, der Borkenkäfer und die Abholzung
Des Rätsels die Lösung ist ein Naturereignis, das bereits vor einigen Jahren stattgefunden hat, aber tiefe Spuren in dem Gebiet und den Gemeinden in diesem Winkel der Alpen hinterlassen hat: das Sturmtief Vaia.
Im Oktober 2018 wurden in den Dolomiten und den venezianischen Voralpen Tausende Hektar Fichtenwald von Sturmböen, die bis zu 200 km/h erreichten, dem Erdboden gleichgemacht. Eine einzige Nacht reichte aus, diese Täler und mit ihnen ganze Ökosysteme für immer zu verändern.
Zu den verheerendsten Auswirkungen gehört die unkontrollierte Ausbreitung des Borkenkäfers, die durch Dürre und Klimawandel weiter verstärkt wird. Dieser Käfer, der unter normalen Bedingungen kranke oder sehr alte Fichten angreift und somit die Zersetzung und die Erneuerung des Waldes beschleunigt, vermehrt sich in einem gestressten Wald explosionsartig und verursacht dadurch in kürzester Zeit den Tod ganzer Waldgebiete. Wirkliche Abhilfe gibt es nicht, lediglich Maßnahmen zur Eindämmung wie das umgehende Abholzen der betroffenen Gebiete.
Die Natur der Dolomiten regeneriert sich: Pionierpflanzen
Zu den vielen Hektar Fichtenwald, die vom Sturm vernichtet wurden, kommen die vom Borkenkäfer befallenen Bäume. Eine Katastrophe. Wo vorher Fichtenwälder standen, gibt es jetzt offene Flächen ohne hochgewachsene Bäume. Auf den ersten Blick eine trostlose Landschaft. Es fehlen der würzige Duft der Nadelbäume, der kühle Schatten und die Tiere.
Aber auch das ist gewiss: Die Natur steht niemals still. Und so beginnen die sogenannten „Pionierpflanzen“ das kahle Gelände Meter für Meter zu besiedeln.
Unter ihnen auch die Himbeere.
So entsteht dieser ungewöhnliche, neuartige Honig. Der durch seinen hohen Glukosegehalt sofort auskristallisiert. Der am Gaumen eine zarte Himbeernote entfaltet, die süß und gleichzeitig leicht säuerlich ist.
Ein Honig, der uns an die Kraft der Natur erinnert, sich immer wieder anzupassen.
Ein Honig, den man nur genießen kann, solange sich der Wald nicht erneut weiterentwickelt.
Achte beim nächsten Bauernmarkt in den Dolomiten einfach mal darauf, und du wirst kleine Schätze wie den Himbeerhonig von ApisLabor finden, dem kleinen Betrieb von Alessia und Claudio.
Sprachliche Besonderheit: la miél de impómbore
Himbeerhonig, auf Italienisch „il miele di lampone“? In Primiero würde man stattdessen la miel de impómbore sagen und damit gleich zwei Besonderheiten des hiesigen Dialekts betonen. Zum einen Substantive, die im Italienischen männlich, im Dialekt hingegen weiblich sind: zum Beispiel la miél (il miele/der Honig), la sal (il sale/das Salz), la sòn (il sonno/der Schlaf). Und zum anderen die zahlreichen – historisch bedingten – Wörter aus der deutschen Sprache wie: la impómbora (il lampone), das vom deutschen Wort Himbeere abstammt.
Du hast einen landwirtschaftlichen Betrieb oder bist in der Tourismusbranche tätig? Ich finde die richtigen Worte für deine Story. Von Land und Leuten zu erzählen, ist meine Leidenschaft.
Himbeerhonig: nicht nur in den Dolomiten
Himbeerhonig gibt es nicht nur in den Dolomiten und in den vom Sturm Vaia betroffenen Gebieten, sondern auch überall dort, wo das massive Abholzen von Fichten nichts mit einem Sturm zu tun hat. Wie in vielen Gegenden in Deutschland, zum Beispiel im Harz, wo die Invasion des Borkenkäfers vermutlich auf eine schlechte Bewirtschaftung der Wälder in Kombination mit dem Klimawandel zurückzuführen ist.
Auch dort haben Himbeeren die kahlen Gebiete besiedelt. Auch dort schenkt die Natur den Imkern den ansonsten äußerst seltenen Himbeerhonig.
Den auf Italienisch verfassten Originalartikel hat Tatjana Heckmann ins Deutsche übersetzt.